WAAGEN MAGAZIN

Collage aus historischem Stadtplan, farbigem Foto einer alten Straßenszene, technischem Waagen-Illustration. Emblem '165 Jahre Innovation für Präzision 1860-2025' unten links.

Sandra Schink

165 Jahre Waagenbau aus Norddeutschland: Happy Founding Day to us!

Waagenbau-Geschichte

Es war ein kalter, nebliger Wintermorgen im Dezember des Jahres 1860, als der junge Schlossermeister Christian Moritz Westphal sich von Wandsbek aus auf den Weg nach Reinbek machte, um bei der holsteinisch-dänischen Verwaltung die Eröffnung seiner Schlosserwerkstatt anzuzeigen. Wandsbek war damals noch ein Flecken im Herzogtum Holstein, Hamburg lag kaum eine Wegstunde entfernt. Politisch aber war es eine andere Welt. Wer in Wandsbek ein Handwerk gründete, brauchte keine Erlaubnis des Hamburger Senats, sondern die Zustimmung der zuständigen Fleckensverwaltung unter der Intendantur in Reinbek.

Es war eine umtriebige Zeit. Zwischen den Resten der alten Zunftordnung und der heraufziehenden Industriegesellschaft suchten Handwerker und kleine Unternehmer in Wandsbek ihren Platz. Der Flecken hatte seine Dorfrechte längst abgelegt und war ein Fabrikort mit erweiterten Gewerberechten geworden. Mitte der 1850er Jahre zählte Wandsbek bereits gut 5.000 Einwohner. Mühlen, Brauereien, Textil- und andere Gewerbebetriebe waren hier ansässig. Viele Werkstätten und Ladenlokale lagen im Erdgeschoss, die Familie wohnte darüber, in oft engen, schlichten Wohnungen.

Gearbeitet wurde lange und hart, meist weit jenseits eines Zehn-Stunden-Tages, ohne soziale Absicherung. Zur gleichen Zeit öffneten sich durch bessere Chausseen, Dampfschiffe und die heranrückende Eisenbahn neue Absatzmöglichkeiten in die wachstumsstarke Handelsstadt Hamburg, deren Hafen sich gerade vom regionalen Umschlagplatz zum Knotenpunkt einer ersten Globalisierung entwickelte.

Politisch lagen die großen Erschütterungen mit Revolution und Schleswig-Holsteinischer Erhebung noch keine zehn Jahre zurück, das Land stand weiter unter dänischer Oberhoheit. Doch im Alltag überwog nun eine Phase relativer Ruhe, in der nationale Spannungen eher im Hintergrund schwelten, während man versuchte, seinen Lebensunterhalt zu sichern. Die unsichere Lage mit niedrigen Löhnen, unsicherer Beschäftigung und wachsenden Gegensätzen zwischen Besitzenden und Besitzlosen war aber spürbar. So mischten sich in dieser Übergangszeit Enge und Mangel mit der leisen Aufbruchsstimmung einer Generation, die ahnte, dass neue Maschinen, neue Verkehrswege und neue Märkte auch für einen jungen Schlossermeister vor den Toren Hamburgs Chancen bereithielten, wenn er bereit war, das Risiko eines eigenen Betriebs einzugehen.

Und so ließ sich auch der Schlosser Westphal in Wandsbek in der Nähe des Marktplatzes nieder, in der damaligen Lübecker Straße 62, Ecke Kampstraße (die heutige Wandsbeker Marktstraße). Er erarbeitete sich einen Namen, spezialisierte sich ab 1873 auf Waagen und nahm seine beiden Neffen in die Lehre. Westphal entwickelte zur Verbesserung der Wägegenauigkeit bei oberschaligen Tafelwaagen einen Führungsmechanismus durch symmetrische Bewegung der Schalenhalter. Und den ließ er sich am 2. Juli 1877 unter der Nummer 955 als Patent beim am Vortag gegründeten Kaiserlichen Patentamt eintragen.

Alte Postkarte mit verschiedenen gezeichneten Motiven aus Wandsbek. Das obere Motiv zeigt ein Haus Ecke Lübecker- und Kampstraße, die es heute nicht mehr gibt. Heute ist es die Wandsbeker Martktstraße.
Technische Zeichnung einer antiken Waage. Oben Waage mit zwei Schalen, darunter Mechanismusdetails. Text: 'C. M. Westphal in Wandsbeck', 'Patent Nr. 955'. Schwarz-weiß, detailreich.
Das Patent für den Führungsmechanismus der oberschaligen Tafelwaage von C.M. Westphal war eines der ersten 1.000 jemals angemeldeten Patente überhaupt. Hier können Sie es herunterladen.

Christian Moritz Westphal legte den Grundstein für eine Erfolgsgeschichte im hanseatischen Waagenbau. Als er im Jahr 1878 kinderlos starb, übernahmen seine beiden Neffen Albert und Ludwig Essmann seine Werkstatt. Da waren sie nicht mal 18 Jahre alt. Sie entwickelten den kleinen, gutlaufenden Waagenbetrieb in den Jahrzehnten danach unter anderem mit dem Bau der Ottensener Waagenfabrik und der Anmeldung von mindestens 60 Patenten zu einem der wichtigsten Waagenbetriebe mit weltweiten Handelspartnern.

Fünf Generationen lang blieb sein Erbe in der Familie Essmann. 2021 hat eine neue Geschäftsführung übernommen, die den Waagenbau konsequent weiterdenkt und sich denselben Werten verpflichtet fühlt: Zuverlässigkeit, Präzision und Innovationskraft. Dass wir auch heute noch Waagen entwickeln und bauen, hochmoderne Wägesysteme mit eigener Software und Integration in intelligente Yard-Management-Systeme, hat seinen Ursprung in diesem Schritt eines jungen Schlossermeisters zwischen Wandsbek und Reinbek – an diesem kalten, nebligen Wintermorgen am 10. Dezember 1860. Danke, C.M. Westphal.

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